Cover
Titel
Die böhmischen Länder im Mittelalter.


Autor(en)
Hilsch, Peter
Reihe
Geschichte in Wissenschaft und Forschung
Erschienen
Stuttgart 2022: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dalibor Havel, Institut für historische Hilfswissenschaften und Archivwesen, Philosophische Fakultät, Masaryk-Universität, Brno

Der deutsche Mediävist Peter Hilsch legt eine Synthese der Geschichte der böhmischen Länder im Mittelalter vor, in der er sich das Ziel absteckte, eine geschlossene Sicht auf dieses Gebiet in der Zeit bis zum Ende der Hussitenkriege zu präsentieren, d.h. bis in die dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts. Seine Ausführungen beginnen bereits in der Antike, da dieses Gebiet schon seit dem römischen Altertum als Einheit empfunden wurde. Eingangs wird von Hilsch eine Schlüsseltatsache festgestellt: Obwohl man die historischen böhmischen Länder von deutscher Seite her bis vor kurzem als Teil Osteuropas angesehen hat, war diese Sichtweise historisch nicht begründet und hing eher mit der ideologischen Orientierung der Tschechoslowakei (und der tschechoslowakischen Historiographie) nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ära des Kommunismus zusammen. Das heutige Tschechien ist nach Hilsch zusammen mit Polen und Ungarn zweifellos ein Teil Mitteleuropas (Einleitung, S. 10), und auf diese Tatsache ist das gesamte Konzept seines Buches aufgebaut.

Hilsch geht es nicht um die Veröffentlichung eines faktographisch erschöpfenden Kompendiums der mittelalterlichen böhmischen Geschichte, es geht ihm eher darum, die Haupttrends und Ereignisse zu erfassen und sie in einen breiteren (mitteleuropäischen) Kontext zu stellen. Sympathisch ist, dass Hilsch auch über die Quellen zu referieren gewillt war, derer wir uns für diesen bestimmten Abschnitt der Geschichte bedienen können. Neben den Quellen (Literatur, S. 286–287) ist freilich auch die Gesamtheit der Sekundärliteratur relevant (siehe Literatur, S. 287–299). Bereits bei ihrer bloßen Durchsicht wird klar, dass Hilsch nicht dem häufigen Fehler „nicht tschechischer“ Mediävisten unterlag, die über die böhmische Geschichte schreiben, der auf der Unkenntnis der relevanten tschechischsprachigen Literatur beruht. Hilsch ist die gegenwärtige tschechischsprachige mediävistische Produktion gut bekannt (eine der wenigen Ausnahmen erwähne ich am Ende) und reflektiert sie in seinem Buch durchaus adäquat.

Die grundsätzlichen Fragen der frühen böhmischen Geschichte drehen sich um die Rezeption der „westlichen“, d.h. fränkischen Phänomene in den mitteleuropäischen Territorien, in die ab dem 6./7. Jahrhundert die Westslawen vordringen. Im politischen Bereich geht es vor allem um die Beurteilung der im Laufe des 10. Jahrhunderts entstehenden Staaten in dem Gebiet, über das sich zuvor ungefähr das Großmährische Reich Mojmírs erstreckt hat. Hilsch erfasst gut das Wesentliche des Streites, der innerhalb der tschechischen Mediävistik geführt wird. Auf der einen Seite steht die Annahme der Existenz des sogenannte mitteleuropäischen Modells (Třeštík, Žemlička, Sommer), das beim Aufbau der frühen Staaten in Mitteleuropa verwendet wurde (der böhmische Staat der ersten přemyslidischen Herzöge, zeitgleich Polen und Ungarn). Die Verwaltung dieser frühen Staatengebilde sei diesem Konzept nach nicht direkt von fränkisch-karolingischen Staatsformen ausgegangen, sondern habe über eine Art „Umweg“ an ein vom Großmährischen Staat inspiriertes System angeknüpft, um erst im Laufe des 13. Jahrhunderts mit der Situation im Westen gleichzuziehen. Auf der anderen Seite verweist Hilsch auf die immer stärker werdende Stimme der Archäologen (Klápště) und Brünner Mediävisten (Wihoda, Jan), die darauf hinweisen, dass das sogenannte mitteleuropäische Modell in den Quellen keinen Rückhalt hat (siehe „Die frühe Verfassung Böhmens“, S. 36–37). Hier spielt die Frage eine wichtige Rolle, ob man bereits in dieser frühen Zeit von einer absoluten Dominanz der přemyslidischen Herzöge über allen Grund und Boden ausgehen kann; mit anderen Worten, ob das System der Burgverwaltung es dem regierenden Herzog ermöglichte, das Territorium des gesamten Staates so zu kontrollieren, dass die übrigen Teile der politisch engagierten Bevölkerung (insbesondere der Adel) erst im Laufe des 13. Jahrhundert durch eine Art „Privatisierung“ des Staates zu ihrem freien (allodialen) Grundbesitz kamen.

Im kulturgeschichtlichen Bereich geht es bei der Ausbreitung „westlicher“ Phänomene nach Osten, nach Mitteleuropa, um die Verbreitung der lateinischen Form des Christentums und der damit verbundenen (karolingischen) Schriftkultur. Auch dieses Problem berührt Hilsch, wenngleich weniger systematisch. Größere Aufmerksamkeit widmet er ihm nur in der ältesten Zeit. Er stellt fest, dass trotz der relativ frühen Mission im 9. Jahrhundert und des nachweislichen Aufbaus eines Kirchennetzes in Großmähren keine elementaren Voraussetzungen für eine Verwurzelung der heimischen Schriftkultur und die Schaffung irgendeiner lokalen schriftlichen Überlieferung schon zu so früher Zeit geschaffen wurden (archäologisch ist für das 9. Jahrhundert in Mähren die Existenz von Klöstern nicht belegt, S. 20).

Auf etwas sichererem Boden bewegen wir uns bei der pragmatischen Schriftkultur. Auch sie kann bis zu einem beträchtlichen Maße ein Indikator für den Anbruch innovativer, aus dem Westen nach Mitteleuropa kommender Veränderungen sein. Dieses Instrument wurde von Hilsch leider nicht voll genutzt, obgleich es sich bei den Ausführungen über die böhmische Geschichte unter der Herrschaft von Herzog (und schließlich König) Vratislav II./I. anbieten würde (siehe vor allem das Kapitel „Die feindlichen Brüder: Vratislav und Jaromir 1055–1092“, S. 51–58). Gerade die Ära Vratislavs ist nämlich für die Durchsetzung der Siegelurkunde als Mittel zur Bestätigung von Rechtsakten entscheidend, die vor allem nachvollziehbarerweise zugunsten von kirchlichen Institutionen getätigt wurden. Die Siegelurkunde können wir auch als eine der Früchte von Vratislavs positiven Beziehungen zu dem römischen Kaiser Heinrich IV. verstehen, die nach Vratislavs Tod (ebenso wie seine Königswürde) für kurze Zeit in den böhmischen Ländern an Bedeutung verlor, im Laufe des 12. Jahrhunderts wurde die Urkunde dann in ihrer Eigenschaft als schriftliche Erfassung einer Rechtstatsache zu einem der Instrumente der kirchlichen Emanzipation. Im Zusammenhang mit der Herrschaftszeit von Herzog Vratislav seien zwei Ungenauigkeiten erwähnt, die Hilsch zufällig auf derselben Seite (S. 55) unterliefen: Hilsch erwähnt hier den Tod von Vratislavs angeblich erster Ehefrau Adelheid (1062), obwohl er um ihre anonyme Vorgängerin bereits auf S. 52 weiß; zur Schlacht bei Flarchheim kam es im Jahr 1080 (auf S. 55 offenbar durch einen Druckfehler auf 1180 datiert).

Der Kirche, ihrer Stellung, ihrem Einfluss und ihrer allmählichen Emanzipation widmet Hilsch eine verdiente Aufmerksamkeit – dies hängt zweifelsohne mit seiner vorhergehenden, der mittelalterlichen Geschichte der Prager Diezöse und ihren Repräsentanten gewidmeten Publikationstätigkeit zusammen. Obwohl der Höhepunkt des kirchlichen Emanzipationsprozesses in den böhmischen Ländern traditionell in das 13. Jahrhundert gelegt wird (siehe „Der Kirchenkampf mit Bischof Andreas und die letzten Jahre Otakars I.“, S. 101–106), räumt Hilsch sehr nüchtern ein, dass die vollständige Durchsetzung der privilegierten Stellung der Geistlichen erst im Laufe des 14. Jahrhunderts erfolgte. Ebenso weist er auf eine Art „Kehrseite“ dieses Prozesses hin: Der Kampf zwischen dem Prager Bischof Andreas und dem böhmischen König Přemysl Otakar I. habe zweifellos zu einem wachsenden Einfluss der päpstlichen Kurie auf die Besetzung des Prager Bischofssitzes geführt (S. 103).

Das globale Thema des 13. Jahrhunderts ist vor allem die Urbarmachung einer Fülle bisher brachliegenden Bodens und alles, was damit zusammenhängt, einschließlich Bevölkerungsverschiebungen und Innovationen im rechtlichen Bereich (S. 136–138). Hilschs Auffassung dieses Phänomens stützt sich auf heutige Erkenntnisse von sowohl der historischen Wissenschaft, als auch der Archäologie. Er deutet auch ein Element an, das in Zukunft möglicherweise ein interessantes Forschungskonzept sein wird, nämlich die klimatischen Aspekte dieses Prozesses (nur andeutungsweise auf S. 139). Parallel zur ländlichen Siedlungsbewegung verlief auch der Prozess der Stadtbildung (S. 139–140), was mit den Veränderungen in der Struktur der überlieferten schriftlichen Quellen einherging. Von diesen erwähnt Hilsch nur die Stadtbücher, die sich in Böhmen seit dem frühen 14. Jahrhundert erhalten haben (S. 140).

Ich weiß nicht, warum Hilsch bei einigen Verweisen auf diplomatische Quellen für die Herrschaft von Přemysl Ottokar II. zu den bereits veralteten Böhmisch-Mährischen Regesten (RBM) greift, wenn für diese Zeit eine moderne und genauere Volltextedition im Böhmischen Diplomatar verfügbar ist – beispielsweise auf S. 126 in Anm. 288 (RBM II, Nr. 753 = CDB V/2, Nr. 637, wo der Friedensvertrag zwischen dem böhmischen Herrscher und dem ungarischen König Stephan V. vom Juli 1271 herausgegeben wurde). Der fünfte Teil des Böhmischen Diplomatars wird von Hilsch in einigen Anmerkungen zitiert, in der abschließenden Übersicht der verwendeten Editionen fehlt es jedoch (S. 286).

Was den Umfang der einzelnen Kapitel betrifft ist es Hilsch gelungen, sein Buch sehr ausgewogen zu konzipieren: die erste Hälfte des Buches befasst sich mit der ältesten Geschichte und der Herrschaftszeit der Přemyslidendynastie, ungefähr die zweite Hälfte ist dann den Luxemburgern auf dem böhmischen Thron gewidmet. Die Kapitel zur Geschichte des 14. und des ersten Drittels des 15. Jahrhunderts sind ebenfalls sehr gelungen, gestattet sei nur eine Anmerkung zu einer Ungenauigkeit in der Genealogie der luxemburgischen Sekundogenitur. Aufgrund kürzlich erfolgter Feststellungen des jungen Brünner Mediävisten Ondřej Schmidt wissen wir, dass nicht Johann Sobieslav der Patriarch von Aquileja war (wie von Hilsch gemäß der älteren Literatur angenommen, S. 217), sondern dessen illegitimer gleichnamiger Bruder Johann von Mähren.1 Dieser uneheliche Sohn Johann Heinrichs wurde im Jahr 1394 ermordet, während Johann Sobieslav bereits ca. 1381 verstarb.

Geringe typographische Fehler im Satz bohemikaler Wörter (S. 269 „španilé jízdy“ statt des korrekten „spanilé jízdy“ u.ä.) können den insgesamt sehr positiven Eindruck, den die Lektüre von Hilschs Monographie bei mir hinterlassen hat, in keiner Weise stören. Peter Hilsch hat eine wahrlich präzise, sehr übersichtliche und gelehrte Synthese der Geschichte der böhmischen Länder im Mittelalter vorgelegt, die ich nicht nur ernsthaften Interessent:innen an der böhmischen Geschichte in den deutschsprachigen Ländern, sondern auch tschechischen Leser:innen wärmstens empfehlen kann.

Anmerkung:
1 Ondřej Schmidt, John of Moravia between the Czech Lands and the Patriarchate of Aquileia (ca. 1345–1394) (East Central and Eastern Europe in the Middle Ages 450–1450 56), Leiden 2019.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch